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Bernar Venet
(*1941 Château-Arnoux / Frankreich, lebt und arbeitet
in New York City):
Trois lignes indéterminées (1992)
Vierkantstahl, gerollt.
Ankauf 1999.
Das Kunstwerk mag man als eine monumentale Manifestation des Gedankens der perfekten Form lesen: der Schraublinie (auch: Helix), wie sie uns von der Schraube, Schraubenfedern, Wendelkabeln oder auch von der Handführung am Geländer einer Wendeltreppe her bekannt ist. Allerdings präsentiert sich das Kunstwerk im dreifachen Arrangement einer Schraublinie auch in einer gewissen "Unordnung", ja, fast Beliebigkeit. So ist Trois lignes indéterminées einerseits ein Monument dafür, welche Präzision in der Stahlverarbeitung heute materialtechnisch möglich ist. Dies führt hin zu Venets Faszination an mathematischen Formeln und Symbolen - die er in den späten 1960ern Jahren gar in den Rang eines Kunstwerk erhob und als solche großformatig ausstellte. Im Gegensatz zur Vieldeutigkeit der Welt und all den Unwägbarkeiten des Alltags liefert die Mathematik ein (extrinsisches) System, bei dem jedes Faktum (nur) eine einzige, genau begrenzte Bedeutung hat. So ist ein Kreisbogen exakt festgelegt durch die entsprechende mathematische Formel plus konkrete Angaben für die "Parameter" Radius + Mittelpunktswinkel, und jede Schraublinie durch ihre mathematische Formel plus die jeweiligen Ausprägungen von Radius, Gangwinkel + Länge. Eine solche mathematische Beschreibung gestattet es, solche Formen computergestützt mit höchster Präzision maschinell zu fertigen (CNC-Maschinen). Die reale Form in der materialen Welt wird also repräsentiert durch eine mathematische Formel, ergänzt um ein Stück "Information" (die Parameter). Erst recht der 3D-Druck die Grenze zwischen Daten hier und materialer Manifestation dort verschwimmen. (Man vergleiche auch mit dem menschlichen Gehirn, das unsere Vorstellungen von realen Objekten ausbildet durch Neuronen und Synapsen dazwischen.)
Einerseits. Andererseits belegen die Anfangs- und Endstücke der "drei unbestimmten Linien" ebenso wie die Torsion / die Verwindung der Vierkantstähle in sich, dass es Venet weniger um die Schraublinie, die kreisende Bewegung an sich geht. Vielmehr befragen die Trois lignes indéterminées unsere Vorstellung von der Welt, inwieweit es beispielsweise von Bedeutung ist, Perfektion im Leben anzustreben. Wenn die perfekte Form Modell steht, macht doch möglicherweise erst die Abweichung von der perfekten Form das Leben reizvoll? ...und eine Spirale zum Kunstwerk? indéterminées = unbestimmt: schon der Titel der Skulptur deutet darauf hin, dass der Verlauf dieser Linien eher einer menschlichen Geste (und dem Zufall) entspringt, denn durch eine mathematische Formel (exakt) definiert ist. Inwieweit entsteht individuelle Meisterschaft im Leben erst dadurch, dass man mannigfältige Einflüsse ("Konzepte") aufnimmt und auch mal eine Phase der "Unordnung" - im Sinne eines Bewusstseinsfindungsprozesses - zulässt? Welche Bedeutung hat der Zufall in unserem Leben? Die Vorstellung, dass alles auch ganz anders sein könnte, erst macht uns bewusst, wie sehr wir einem - mehr oder weniger fixen - Konzept unseres Lebens anhaften. Wie wir dieses Selbstkonzept jeden Tag (unbewusst?) konstruieren. Und wie sehr es uns möglicherweise einschränkt.
»Künstler sein heißt zu suchen,
auf die Gefahr hin, dass man sich verläuft...
Allein auf dem falschen Weg zu sein,
ist besser als mit den anderen zu gehen.«
[Bernar Venet, 1993]
Venet studierte 1958 zunächst an der städtischen Schule für Gestaltende Kunst in Nizza. Anschließend war er an der Oper Nizza als Bühnenbildner tätig. Nach seinem Wehrdienst begann er, künstlerisch zu arbeiten und widmete sich der Malerei, Zeichnung und Fotografie und konzipierte ein Ballett. Eine Serie von Gemälden aus Teer entsteht 1961, 1963 ein Haufen Kohle, auf den Boden geschüttet.
1966 siedelte Venet nach New York über und wurde Teil der dortigen minimalistischen Avantgarde-Szene. Mit Dan Flavin, Donald Judd und Sol LeWitt war er befreundet und tauschte Arbeiten aus. 1971 der Bruch: Venet zog sich konsequent von jeglicher künstlerischen Tätigkeit zurück und konzentrierte sich auf kunsttheoretische Fragen. Er unterrichtete an der Pariser Universität Sorbonne Kunst und Kunsttheorie und gab Vorlesungen in England, Italien, Polen und Belgien. Ab 1976 beginnt Venet wieder, künstlerisch zu arbeiten; es entstehen Holzreliefs: Bögen, Winkel, gerade Linien. 1979 erschafft er die erste seiner "Unbestimmten Linien" - und schafft damit einen Antipoden zur mathematischen Strenge in seinem Werk: das Unbewusst-Gestische, das Unberechenbare. In den 1980er Jahren entwickelt er dann jene minimalistischen Stahlskulpturen, für die er international bekannt wird: mal Kreisbögen, mal Spiral- oder Schraublinien, später oft Arrangements aus solchen, die trotz ihrer Masse leicht wirken. Die Mathematik dient Venet dabei als formale Inspirationsquelle. In Deutschland wird er 1987 bekannt mit seiner 12 m hohen Arbeit Arc 124,5°, die das französische Außenministerium der Stadt Berlin anlässlich ihrer 750-Jahr-Feier schenkt. 1989 kauft er eine alte Fabrik und Wassermühle in Le Muy, Südfrankreich, heute Sitz der Venet Foundation. Auf Einladung von Jacques Chirac, damals Oberbürgermeister von Paris, stellt Venet 1994 zwölf monumentale Stahlskulpturen auf den Champs de Mars aus. Aufträge weltweit folgen. Bis heute arbeitet Venet auch in Malerei, Poesie, Film und Performance.
1977 war Venet Teilnehmer der documenta 6 in Kassel, 1978 nahm er an der Biennale Venedig teil.
1993 führte ihn eine große Retrospektive, ausgerichtet vom
Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain Nice,
ins Wilhelm-Hack-Museum nach Ludwigshafen am Rhein.
Immer wieder ist er auf den Blickachsen
in Bad Homburg vor der Höhe und im Rhein-Main-Gebiet vertreten.
2011 bespielt er die Wiese vor dem IG-Farben-Haus auf dem Campus Westend
der Universität Frankfurt mit einer eindrucksvollen Solo-Schau.
Seine Werke sind in Europa, den USA und Neuseeland öffentlich aufgestellt,
Museen auf der ganzen Welt widmen ihm Ausstellungen.
Zu den zahlreichen Ehrungen und Preisen, die Venet zuteil wurden, zählen:
1990 Grand Prix des Arts de La Ville de Paris
1996 Chevalier des Arts et Lettres
1997 Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften
und Künste, Salzburg, Österreich
2005 Chevalier de la Légion d’Honneur
2016 Lifetime Achievement in Contemporary Sculpture Award,
International Sculpture Center
Mehr:
Die Welt des Bernar Venet (Welt der Form)
[Foto: 6/2018 pew. Lizenz: Creative Commons Namensnennung - nicht kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen]