Anish Kapoor (*1954 Mumbai, lebt und arbeitet seit den frühen 1970er
Jahren in London):
Tall Tree and the Eye (2009)
Rostfreier Stahl, 13 × 5 × 5 m.
Standort: Guggenheim-Museum
»Geometrie ist faszinierend, weil wir sie für eine rein rationale Sache halten,
aber sie ist voller psychischer Komplikationen.
Das ist, was mich interessiert, jener Moment,
in dem ein geometrisches Objekt beginnt,
etwas Seltsames, etwas Unvorhersehbares zu tun.
(...)
Wie wird etwas, das aus dem Verstand geboren wurde,
zu etwas, das für diesen Verstand nicht verständlich ist?
Es ist diese Idee, und sie ist buchstäblich wahr.
(...)
Objekte sind normalerweise nicht so, wie sie durch ihre Körperlichkeit beschrieben werden.
Sie sind oft etwas anderes. Dieses andere Ding ist eine Art
immaterielles Objekt, eine nicht-materielle Präsenz.«
[Anish Kapoor, im Gespräch mit Isabel Salema, PÚBLICO, 7. Juli 2018]
Kristallkugeln - jede für sich schon wunderschön - hier ranken sie sich auch noch in großer Zahl und Anmut gen Himmel.
Ist es vorstellbar, dass Kapoor mit Tall Tree and the Eye nur auf diese Anmut abzielt?
Kapoor - ein Künstler, der mit der psychologischen Wirkung von Farbe, Dimension und archetypischen Formen arbeitet,
der Arbeiten wie
→ Al borde del mundo II (1998);
→ Suck (2008), Jupiter Artland;
→ Ascension (2011), Biennale di Venezia;
→ Descension (2015-18)
schuf? Worum geht es Kapoor hier,
wenn er uns mit den perfekten Formen und all ihrem Glanz ganz trunken macht?
Ist es möglich, dass Kapoor hier gerade diese unsere Empfänglichkeit für Schönheit befragt?
Dem Turm-Motiv ist seit jeher die Faszination am "Höher hinaus",
das Streben nach Sichtbarkeit und Geltung ebenso wie
das erhabene Gefühl, - schlicht durch die erhöhte Position - alles unter Kontrolle zu haben, einbeschrieben.
Der Turm verkörpert denn aber auch die schlussendliche Vergeblichkeit des menschlichen Ehrgeizes
- wie das Kind, mit Bauklötzen hantierend, schon früh erfährt.
Direkt vor dem Guggenheim-Museum aufgestellt, liest man in den Kristallkugeln
somit auch das Immer-Mehr, das Immer-Weiter der Kunstwelt
- das sich quantitativ ebenso auf die Sammlungstätigkeit des Museums
beziehen lässt wie auf die Wertsteigerung der gehorten Kunstwerke.
Bei genauerer Betrachtung erscheint in den Kristallkugeln jedoch vor allem eins:
die Selbstbespiegelung des Menschen.
Wächst hier nur die Anzahl der Kunstmuseen weltweit, die mensch besucht hat
(zusammen mit der Anzahl der Selfies davor)?
Oder wächst auch der Mensch mit, der die Kunst konsumiert?
Steckt die wahre Größe am Ende gar im Wasser, dem der Turm entwächst?
Wasser als Symbol des Lebens - mal aufgepeitscht, mal still und tief.
Schon immer da, und doch so flüchtig. Stets im Fluss.
Symbol auch all dessen, was größer ist als wir selbst.
Und Symbol insbesondere für das, was sich nicht festhalten lässt im Leben.
(Kunstobjekte zum Beispiel.)
Stehen die Kugeln womöglich für Wassertröpfchen, die verdunsten -
und damit symbolisch für den ewigen Kreislauf des Wassers wie auch des Lebens?
Steckt die Faszination der Schönheit vielleicht darin,
dass sie uns für einen Augenblick mit der Ewigkeit verbindet?
[Foto: 12/2013 xavier33300, flickr.
Lizenz: Creative Commons Namensnennung]