Skulpturenpark Schloss Philippsruhe, Hanau

Franz Erhard Walther (*1939 Fulda, lebt und arbeitet seit 2005 ebd.):
Modellierung und Modulierung (1992)

Zwei gravierte, halbkreisförmige Stahlplatten, 220 cm lang, die sich "anschauen" (vgl. folgendes Bild). Standort: Wiese am Treppenaufgang zum Café / zur Mainterrasse von Schloss Philippsruhe. Die Stahlplatten verstehen sich als Sockel für den Kunstinteressierten, der sich von diesen beiden Standpunkten aus der Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten der jeweiligen räumlichen Situationen und ihrer Wirkung bewusst werden kann: so schaut man von der einen Stahlplatte aus in Richtung Main (offen, weit, naturnah → entspannend, beruhigend), auf der anderen blickt man gegen die Natursteinmauer (menschengemacht, "Natur als Material" → begrenzend, abweisend, einengend).

(Landschafts-)Modellierung formt - beispielsweise die Natur - nach einem geistigen Bild. In symmetrischen angelegten Gärten und weiten Blickachsen kommt nicht nur ein idealisierter, geistiger Reinzustand zum Ausdruck (als Gegensatz zur wilden Natur), sondern auch gestalterische Fremdeinwirkung, ein Sicht-Bemächtigen und ein Bedürfnis nach Kontrollierbarkeit. Den Begriff "Modulierung" andererseits gibt es eigentlich nicht, vermutlich ist "Modulation" gemeint. Modulation heißt, eine Veränderung - z.B. der Stimme, eines Klangs oder eines Trägersignals - einzuleiten und zu steuern dergestalt, dass sich eine neue Wahrnehmung oder Nutzung des Objekts, auf das die Veränderung zielt, einstellt. Positioniert man sich auf der Stahlplatte, die mit "Modulierung" beschriftet ist, so, dass man beide Schriftzüge lesen kann (dass also kein Schriftzug auf dem Kopf steht), dann blickt man in Richtung Main. Die Stahlplatten "Modellierung" und "Modulierung" werden plötzlich zu zwei Halbkreisen, die sich zu einem Ganzen ergänzen. Der Betrachter wird sich gewahr als derjenige, der beim Anblick der Mainaue entscheidet, ob er Natur sehen möchte - oder die modellierte Natur: nämlich eine Wasserstraße (mit einem Rasen, der nie als Wiese blüht, im Vordergrund). Der Betrachter moduliert seine Wahrnehmung.

Franz Erhard Walther veränderte in den 1960er-Jahren mit seiner Kunst radikal das Verständnis des traditionellen Skulpturbegriffs. Für ihn bilden der Prozess, das Sehen, die Bewegung, die (Selbst-)Erfahrung durch Handlung das Kunstwerk. Eine Arbeit von Walther gibt ein Gerüst vor »für Selbsterfahrung im Spannungsfeld von kontemplativer und kommunikativer Auseinandersetzung« [Karlheinz Schmid, in: Kunstzeitung, Juli 2019]. Der Betrachter wird zum Benutzer und Denker in einem vorgegebenen Kontext.

»1962/63 begann ich, Körperhandlungen als Werkform in den Mittelpunkt meiner Kunst zu stellen. Statt eines materialen Objektes, sei es Bild oder Plastik, proklamierte ich, dass Körpergesten Werkcharakter haben können. Dazu hatte ich einen Korpus von Werkstücken entwickelt, mit denen bestimmte Handlungen zu vollziehen waren. Mit diesem Instrumentarium sollte artikuliert werden, was künstlerisch über Zeit, Orte, Räume und die Stellung des Körpers darin gesagt werden kann. Raum, Zeit, Ort, Körper, Sprache, Geschichte und Erinnerung wurden dabei zu Materialien der Werkformung.« [Franz Erhard Walther]

»...weiter kann man den Menschen wirklich nicht entgegenkommen, als ihnen selbst das eigentliche Künstlerische zu überantworten.« [Franz Erhard Walther]

In diesem Licht besehen, lässt sich seine Hanauer Skulptur - auf einer dritten Ebene - wie eine Programmatik für Walthers Werkverständnis lesen: die Modellierung ist der Rahmen, den der Künstler mit seiner Einlassung schafft, im Kontext des Aufstellungsorts. Damit untrennbar verbunden, entspricht die Modulierung auf Seiten des Betrachters dem individuellen Wahrnehmungsprozess, der von seinen Blicken, Bewegungen und Handlungen ebenso wie von seinen ins Gehirn eingeschriebenen Vorerfahrungen und Denkmustern beeinflusst ist.

Walther, mehrfacher Documenta-Teilnehmer, hatte in den Jahren von 1971 bis 2005 eine Professur an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg inne. 1994 wurde ihm der Piepenbrock Preis für Skulptur zuteil, die Biennale di Venezia 2017 zeichnete ihn mit dem Goldenen Löwen als besten Künstler aus. Walther stellte unter anderem aus im Museum of Modern Art (New York, 1969), in der Nationalgalerie Berlin (1981), in der Kunsthalle Düsseldorf (2004), auf der Biennale São Paulo (2012) und in der Kunsthalle Mannheim (2013). Einzelausstellungen widmetem ihm u.a. das Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main (2014), das WIELS - Zentrum für zeitgenössische Kunst, Brüssel (2014), die Situation Kunst, Bochum (2013), die Hamburger Kunsthalle (2013), das ZKM, Karlsruhe (2012), die Museen Haus Lange - Haus Esters, Krefeld (2011), das MARTa Herford (2011), das Kunstmuseum Luzern (2010), das Dia:Beacon, New York (2010).

[Foto: 10/2017 tew. Lizenz: Creative Commons Namensnennung - nicht kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen]