SkulpTour München

Timm Ulrichs (*1940 Berlin, lebt und arbeitet in Hannover, Berlin und Münster): Versunkenes Dorf (2006)

Bemalte Betonfertigteile. Ulrichs nicht begehbare Replik des Kirchengebäudes der 150 m entfernten Heilig-Kreuz-Kirche erinnert an das Schicksal dieses Kulturguts und an die Vergänglichkeit von Kultur als solcher. Standort: Fröttmaninger Berg

Die katholische Heilig-Kreuz-Kirche aus dem 9. bis 12. Jahrhundert ist der älteste erhaltene Kirchenbau im Stadtgebiet München und bekannt für seine direkt auf Ziegel gemalten romanischen Wandmalereien [Fotogalerie]. An ihrer Stelle befand sich eine Opferstätte der Kelten - 1971 wurde bei Reparaturarbeiten ein keltischer Rundaltar entdeckt. Heute ist die Kirche das einzige Überbleibsel des Dorfs Fröttmaning (erstmalige Erwähnung im Jahre 815), das in den 1950er Jahren einer Mülldeponie weichen musste. Beim Bau des Münchner Autobahnringes erreichten einsatzbereite Bürger unter Leitung des Kirchenpflegers von St. Albert, Ludwig Maile, die Verschiebung des Autobahnkreuzes München-Nord, dessen Abzweigung Richtung Salzburg den ursprünglichen Planungen zufolge genau über Friedhof und Kirche verlaufen wäre. Seit dem Abbruch der letzten Höfe für den Autobahnbau 1969 steht Heilig-Kreuz frei. Bis 1971 verwahrloste die Kirche und wurde ausgeplündert und geschändet. Wertvolle Kunstwerke und die beiden Glocken aus dem 15. Jahrhundert gingen verloren. 1984 wurden Pläne konkret, den Müllberg bis zur Kirchenmauer hin zu erweitern. Nach Bürgerprotesten wurde jedoch auch dieser Plan zurückgenommen. Später setzte sich die Bürgerinitiative ein drittes Mal für die Kirche ein, diesmal für die Berücksichtigung des kirchlichen Baudenkmals im Bebauungsplan der nahe gelegenen Allianz Arena. Die Rettungsstraße samt ihrer Brücke musste zweihundert Meter nach Süden verlegt werden. [Information: Wikipedia]

Als Kunst am Bau für die Allianz Arena lobte die städtische „Kommission für Kunst am Bau und im öffentlichen Raum“ einen internationalen Wettbewerb aus. Dabei wurde der Fröttmaninger Berg in den Wettbewerbsbereich einbezogen. Am 29. Juni 2004 empfahl die Kommission einstimmig den Vorschlag des Münsteraner Künstlers Timm Ulrichs zur Realisierung.

«Der Künstler sieht sein Werk als Verlustanzeige und surreal-melancholisches Stimmungsbild. Mit dem untergehenden Doppelgänger hat er aber auch ein großartiges Menetekel von eindringlicher Präsenz geschaffen, das ebenso spielerisch wie poetisch die Kosten des Fortschritts beschwört.» [Michael Stoeber, QUIVID] 2009 wurde Ulrichs für das Versunkene Dorf mit dem mfi Preis Kunst am Bau (ausgelobt vom Unternehmen mfi Management für Immobilien AG, Essen) ausgezeichnet.

Ulrichs ist Konzept- und Performance-Künstler. Er bezeichnet sich selbst als ‚Totalkünstler' und scheint darunter den Anspruch zu verstehen, den Kunstbegriff ebenso regelmäßig wie radikal auszuweiten und systematisch Gattungsgrenzen auszumachen, um sie zu überschreiten. Er stellte sich selbst in einem Glaskasten als „lebendes Kunstwerk“ aus, ließ sich 1981 nackig in einem riesigen Findling 10 Stunden lang einschließen und die Worte „The End“ auf's Augenlid tätowieren. Ulrichs hatte 1969 - 70 eine Gastprofessur an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste Braunschweig inne, von 1972 bis 2005 eine Professur für Bildhauerei und Totalkunst an der Staatlichen Akademie Münster. 1977 nahm er an der documenta 6 in Kassel teil. Europaweit wurden Ulrichs Einzelausstellungen gewidmet, zahlreiche Preise wurden ihm zuteil.

Bildnerischer Mittel setzt er gerne ein, um die Sehgewohnheiten des Betrachters zu befragen (wie etwa bei Versunkenes Dorf), eine Standortbestimmung einzufordern (wie etwa bei Erdachse) oder seine Erwartungshaltung zu enttäuschen. Bei seinen Tanzenden Bäumen 2008 im Kurpark Bad Homburg (anlässlich der Blickachsen 7) etwa fingen drei motorbetriebene Birken plötzlich an, sich wie wertvolle Ausstellungsstücke zu drehen, sobald der Spaziergänger sich ihnen näherte. Was zunächst wie ein Gag daherkommt, offenbart sich bei wiederholter Betrachtung nicht selten als kritisches Statement - wie bei Versatzstück. Ulrichs spielt mit Sprache, Sinnbildern und Mehrdeutigkeiten. In Hannover beispielsweise pflasterte er einen Weg mit seinem Kopf: Kopfsteinpflaster, in Nürnberg applizierte er eine Baum-Krone. Auch zur zeitgenössischen konkreten Poesie lieferte Ulrichs Beiträge, man vergleiche etwa das Werk Umraum in Essen. 2012 wurde Ulrichs in die Stiftung für Konkrete Kunst und Design, Ingolstadt, aufgenommen.

[Foto: 8/2010 X, Wikimedia Commons. Lizenz: public domain]