die welt des max bill

*22.12.1908 winterthur   †9.12.1994 berlin




leben

zunächst ging bill in eine lehre als silberschmied an der kunstgewerbeschule zürich (1924 bis 1927). 1925 erhielt den ersten preis beim jubiläumsplakatwettbewerb von suchard. im selben jahr noch - bill war gerade mal 17 jahre alt - lud man ihn zur exposition internationale des arts décoratifs et industriels modernes nach paris ein. hier lernte er u.a. werke von le corbusier kennen. 1927 und 1928 studierte er am bauhaus in dessau, wo zu dieser zeit gerd albers, wassily kandinsky, paul klee, lászló moholy-nagy und oskar schlemmer lehrten. ab 1929 arbeitete bill freischaffend als architekt, maler und grafiker in zürich. 1932 lernt er hans arp und piet mondrian kennen. er wird mitglied der künstlerbewegung abstraction-création in paris (bis zu ihrer auflösung 1936). 1932 lernt er georges vantongerloo kennen, mit dem ihn eine enge freundschaft verband. 1936 definierte er in einem ausstellungskatalog des kunsthauses zürich seine vorstellung von "konkreter kunst" und wurde - neben Richard P. Lohse - zu einem ihrer wichtigsten vertreter.

»konkrete gestaltung ist jene gestaltung, welche aus ihren eigenen mitteln und gesetzen entsteht, ohne diese aus äusseren naturerscheinungen ableiten oder entlehnen zu müssen, die optische gestaltung beruht somit auf farbe, form, raum, licht, bewegung (…) durch die formung nehmen die entstehenden werke konkrete form an, sie werden aus ihrer rein geistigen existenz in tatsache umgesetzt, sie werden zu gegenständen, zu optischen und geistigen gebrauchsgegenständen.«
[max bill, 1936]

konkrete kunst nennen wir jene kunstwerke, die aufgrund ihrer ureigenen mittel und gesetzmässigkeiten – ohne äusserliche anlehnung an naturerscheinungen oder deren transformierung, also nicht durch abstraktion – entstanden sind. konkrete kunst ist in ihrer eigenart selbständig. sie ist der ausdruck des menschlichen geistes, für den menschlichen geist bestimmt, und sie sei von jener schärfe, eindeutigkeit und vollkommenheit, wie dies von werken des menschlichen geistes erwartet werden muss. (...)
konkrete kunst ist in ihrer letzten konsequenz der reine ausdruck von harmonischem mass und gesetz. sie ordnet systeme und gibt mit künstlerischen mitteln diesen ordnungen das leben. sie ist real und geistig, unnaturalistisch und dennoch naturnah. sie erstrebt das universelle und pflegt dennoch das einmalige, sie drängt das individualistische zurück, zu gunsten des individuums.
[max bill: konkrete kunst, in: ausstellungskatalog zürcher konkrete kunst, 1949]

seinen ersten lehrauftrag nahm bill 1944/1945 wahr; an der zürcher kunstgewerbeschule unterrichtete er formenlehre.

»wir wollen durch unsere ehrliche arbeit, nach unserer wohl fundierten überzeugung helfen, für möglichst viele menschen eine den möglichkeiten und bedürfnissen unserer zeit entsprechende umgebung zu gestalten.«
(max bill, 1955)

1951 - 53 gründete bill - gemeinsam mit inge scholl und otl aicher - die ulmer hochschule für gestaltung. über eine klare ästhetik, die form und funktion vereint, hinaus, steht das ideal einer besseren politisch-sozialen ordnung im hintergrund. (das projekt erhielt 1 million mark an fördergeldern durch den alliierten hochkommissar john mccloy.) offizielle trägerin der hfg war die geschwister-scholl-stiftung.

bill war nicht nur der architekt des gebäudes, das offene kommunikation nahelegt, gewesen. bill trat auch für eine universelle, gemeinsame grundausbildung, mit der die studenten begannen, bevor sie sich spezialisierten, ein. die bedeutung, früh über den tellerrand zu schauen und kontakte zu knüpfen, hatte er am bauhaus selbst erfahren. bill übernahm die verantwortung des ersten rektors der hochschule (bis 1956).

in den jahren von 1967 bis 1974 lehrte bill an der hochschule für bildende künste hamburg (lehrstuhl für umweltgestaltung).

bill nahm dreimal an der documenta in kassel teil: 1955, 1959 und 1964; zweimal an der biennale von venedig: 1958 und 1970.

bill setzte sich zudem immer wieder mit politischen fragen auseinander. nicht nur gewährte er vom ns-regime verfolgten unterschlupf und wurde deshalb sogar vom geheimdienst überwacht. in der 1930er jahren gestaltete er antifaschistische publikationen. er setzte sich später gegen die atomare Aufrüstung ein, protestierte gegen den Vietnamkrieg und thematisierte schon in den 1950er Jahren den Umweltschutz. 1961 bis 1968 war bill mitglied des zürcher gemeinderates, 1967 bis 1971 des schweizer nationalrats (parteilos).



bildhauerisches werk

bills arbeiten im öffentlichen raum lassen sich in drei werkgruppen gliedern.

»dieses „für-sich-selbst-stehen“ war für das publikum nicht leicht zu verdauen, die autonomie der kunstobjekte wurde als nihilistisch missbilligt, das entdecken ihrer strukturprinzipien erforderte intellektualität, sie galt als lebensfern.«
(Olga Emzet
inform design magazin, Nr. 7
2008)

  1. [ab 1935]
    konkrete kunst, die sich aus geometrischen flächen und körpern ableitet. zentral sind hier insbesondere idee und variationen des möbiusbandes, das zu seiner entfaltung auf den umgebenden raum bedingt ist. daneben oft überraschende "einsichten" in kugel oder kubus;
  2. säulen und die vertikale - nicht zuletzt auch eine hommage an constantin brâncusi.
    1. [ab 1966]
      eine werkgruppe von granitsäulen aus segmenten mit 3 bis 8 "kanten" im querschnitt;
    2. [ab mitte der 1970er jahre]
      eine werkgruppe farbiger säulen, bei denen an die stelle einer zahlenfolge als ordnungsprinzip ein rhythmus aus farben des farbkreises tritt;
  3. [ab 1969]
    die dezentrale, benutzbare raumplastik, aus balkenartigen quadern zusammengesetzt, oft mit oder in bezug zur architektur. ihr offensichtlichstes merkmal ist ihre offenheit: das sich öffnen in den raum (insbesondere das explorieren der horizontale) auf der einen seite, das sich dem menschen öffnende auf der anderen seite.

aus den werkbeispielen im öffentlichen raum wird anschaulich,

»dass kunst nur dort und nur dann und nur deshalb entstehen kann, wenn und weil ein individueller ausdruck und persönliche erfindung sich dem ordnungsprinzip der struktur unterstellen und diesem ordnungsprinzip neue gesetzmässigkeiten und gestalt-möglichkeiten abgewinnen können.«
[max bill 1965/67]

diese symbiose vom prinzip der struktur einerseits mit dem individuellen künstlerischen ausdruck und der persönlichen erfindung andererseits lässt sich am beispiel des möbiusbandes augenfällig machen: jeder, der z.b. aus einem papierstreifen ein möbiusband selbst herstellt, wird gewahr, das es eine unendliche anzahl von möglichkeiten gibt, das entstandene band zu arrangieren, zu positionieren. für die unendliche schleife im stadtpark von essen hat bill eine einzige davon ausgewählt; an dieser stelle also schlägt sich bills individuelle künstlerische "handschrift" - man könnte auch sagen: die intuition, das gefühl gegenüber der blossen ratio - nieder.

so unscharf und schwierig eine definition von 'konkreter kunst' und insbesondere ihre abgrenzung von abstrakter kunst und von abstrakt-geometrischer kunst ist: erhellend für das verständnis von bills werk und bills kunstauffassung ist m.e., das augenmerk weniger auf das was (also das ergebnis des schaffensprozesses, das kunstwerk) also auf das wie zu richten: auf seinen entstehungsprozess. hierzu schreibt bill in dem aufsatz die mathematische denkweise in der kunst unserer zeit [in: werk, Nr. 3, 1949]:

»ich bin der auffassung, es sei möglich, eine kunst weitgehend aufgrund einer mathematischen denkweise zu entwickeln.«
[max bill 1949]

um dies zu erläutern, sei an dieser stelle ein kleiner exkurs in die mathematik gestattet. das werkstück des mathematikers ist ein sogenannter mathematischer "satz" - also eine aussage über die struktur eines mathematischen objekts - zusammen mit dem beweis dieses satzes. der beweis des satzes dokumentiert dabei nicht nur unumstösslich und eindeutig die richtigkeit des mathematischen satzes (gewissermaßen unabhängig von zeit und raum). das augenmerk des mathematikers ist im besonderen stets darauf gerichtet, einen beweis möglichst elegant, d.h. knapp und erhellend, also prägnant, zu führen, denn hierin kommt die schönheit der mathematik als einer universellen wissenschaft zum ausdruck. darüberhinaus will ein beweis nach möglichkeit verständnis für die hintergründe, für das warum der im mathematischen satz festgestellten tatsache wecken.

der beweis in der mathematik hat also viel gemein mit dem, was als kunstwerk in der konkreten kunst gilt. wie nun aber entsteht ein mathematischer beweis? der mathematiker andreas speiser (*1885 basel †1970) umschreibt [in: die mathematische denkweise. rascher, zürich, 1932] die mathematische denkweise als formales denken, in welchem durch weglassen und verdichten höchstmögliche präzision und eindeutigkeit angestrebt wird. echtes mathematisches denken ist eine auf problemlösung und erfindung gerichtete aktivität, bei der strukturen, gestalten und konstellationen eine leitende ästhetische funktion übernehmen. methodisches, logisch nachvollziehbares vorgehen ist zwar notwendig; gleichzeitig führen aber nur offenheit und grenzüberschreitendes experimentieren zu echten entdeckungen. [zitiert nach: hans jörg glattfelder: konstanz und wandlung des begriffs »konkret« bei max bill. in: max bill: aspekte seines werkes. hrsg. kunstmuseum winterthur / gewerbemuseum winterthur, niggli verlag, 2008]

der betrachter eines konkreten kunstwerks geht diese schritte gewissermaßen rückwärts: er versucht, die erfindung, die strukturidee, das logische ordnungsprinzip, die/das im betrachteten werk "codiert" ist, zu dechiffrieren. gelingt dies, erfährt er die geistige schönheit des werks und das mit ihrer entdeckung verbundene gefühl der offenen freude.



würdigungen und auszeichnungen (auswahl)

1936 grand prix für den schweizer pavillon (ebenso 1951)
1949 kandinsky-preis, paris
1951 grosser preis der triennale di milano;
grand prix für plastik an der bienal de são paulo
1954 goldmedaille an der triennale di milano
1964 ehrenmitglied des american institute of architects
1968 kunstpreis der stadt zürich
1979 grosses verdienstkreuz der bundesrepublik deutschland;
ehrendoktorwürde der universität stuttgart;
kulturpreis der stadt winterthur
1982 kaiserring der stadt glosar;
ritter des belgischen kronenordens
1985 kommandant des französischen ordre des arts et lettres;
vorsitzender des bauhaus archivs, berlin
1987 frank j. malina leonardo prize der international society for the arts, sciences and technology, berkeley
1988 premio marconi per arte e scienzia, bologna
1989 piepenbrock-preis für plastik, osnabrück
1990 helmut-kraft-preis für bildende künste, stuttgart
1992 praemium imperiale, tokio
1993 ernennung zum chevalier de la légion d'honneur de la france
1994 ehrendoktorwürde der eidgenössischen technischen hochschule zürich


einzelausstellungen (auswahl)

zu den mit »k« gekennzeichneten ausstellungen erschien ein katalog.

1928 bauhaus, dessau (mit albert braun)
1930 kunsthalle bern (mit probst, steck, vallotton, von may)
1939 kunstmuseum basel
1949 galerie gerd rosen, berlin (mit albers);
kunsthaus zürich (mit pevsner und vantongerloo)k
1950 museu de arte moderna de São Paulo
1956/57 wanderausstellung: ulmer museum, staatliches museum für angewandte kunst münchen, städtisches kunstmuseum duisburg (heute: wilhelm-lehmbruck-museum), städtisches karl-ernst-osthaus-museum, haggenk
1959 kunsthalle basel (mit aeschbacher, linck und müller);
schloss morsbroich, leverkusenk
1960 staatsgalerie stuttgart;k
kunstmuseum winterthurk
1963 staempfli gallery, new york
1965 gemeindehaus uster
1968 kunsthalle bern;k
kestner-gesellschaft, hannover;k
kunstverein für die rheinlande und westfalen, düsseldorf;k
haags gemeentemuseum, den haagk;
kunsthaus zürichk
1969 centre national d'art contemporain, parisk
1969-70 musée de peinture et de sculpture, grenoblek
1970 san francisco museum of art
1972 musée rath, genf;k
kunstmuseum aarhuis;
marlborough-godard, toronto und montrealk
1974-75 wanderausstellung: albright-knox art gallery, buffalo / n.y., los angeles county museum of art, san francisco museum of artk
1976 wanderausstellung: kunsthalle hamburg, museum für kunst und gewerbe, hamburg, akademie der künste, berlin, württembergischer kunstverein, stuttgartk
1978 städtisches museum quadrat bottropk
1979 museo de bellas artes, caracask
1980 museo espanol de arte contemporaneo, madrid;k
fondazion juan mirò, barcelonak
1981 13. internationale biennale der kleinskulptur, padua
1982 mönchehaus-museum für moderne kunst, goslark
1986 kunsthalle mücsarnok, budapestk
1987 nationalgalerie belgrad;
kunsthalle weimar;
nationalgalerie prag;k
schirn kunsthalle, frankfurt am maink
1988 kunsthaus zürichk;
kunsthalle weimark
1990 Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafenk
1991 Pinacoteca comunale, Casa Rusca, Locarnok
2005 kunstmuseum stuttgartk
2008 kunstmuseum winterthur / gewerbemuseum winterthur;k
museum marta herfordk



schriften und lehrvorträge von max bill (auswahl)

[1936] konkrete gestaltung
[1949] die mathematische denkweise in der kunst unserer zeit
[1955] grundlage und ziel der Ästhetik im maschinenzeitalter
[1976] die magie der gestalteten gegenstände – autonome gegenstände für den geistigen gebrauch – bauen als teil der gestalteten umwelt (in: vom bauhaus bis ulm, 1976)



literaturhinweise / video

[bill 87] Max Bill - retrospektive. skulpturen gemälde graphik 1928 - 1987.
Katalog anlässlich der ausstellung in der schirn kunsthalle frankfurt am main, abc verlag, zürich, und edition cantz, stuttgart, 1987
[buchbesprechung]
[bl 05] max bill: maler, bildhauer, architekt, designer.
hrsg. thomas buchsteiner und Otto Letze, hatje cantz verlag, 2005.
erschienen anlässlich der retrospektive im kunstmuseum stuttgart
[bill 00] max bill - unendliche schleife 1935-1995 und die einflächner.
chantal bill [redaktion], jakob bill [verleger], benteli, wabern-bern, 2000
[sch 08] max bill - das absolute augenmass.
dvd-video von erich schmid (regisseur), salzgeber & co. medien gmbh, 2008. [an diesem dokumentarischen porträt, das anlässlich bills 100. geburtstags (22.12.2008) erschien, arbeitete regisseur erich schmid über sechs Jahre hinweg. es spürt seinen gestaltungsprinzipien nach im spannungsfeld zwischen kunst und politik, zwischen kreativer vision und gesellschaftlicher verantwortung. die texte zum film gehen insbesondere auf den politischen max bill ein, u.a. auf seinen aktiven widerstand gegen den faschismus.]



weblinks




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