SkulpTour Kassel

Olu Oguibe (*1964 Aba / Nigeria, lebt und arbeitet in Rockville, Connecticut / USA): Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument (Obelisk) (2017)

„I was a stranger and you took me in“
„Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“

Dieser Satz ist auf den vier Seiten des Obelisks zu lesen: in den Sprachen Arabisch, Deutsch, Englisch und Türkisch - den in Kassel am häufigsten gesprochenen Sprachen. Der Künstler Olu Oguibe hat den 16.20 m hohen Obelisk keinem Gott oder Herrscher gewidmet – sondern Menschen, die Schutz suchen, und Menschen, die Schutz gewähren.

Das Zitat aus dem Matthäus-Evangelium steht im Zusammenhang mit Äußerungen Jesu über Heiden. Als ein Teil seiner Anhänger erwiderte, er habe doch nie Hilfe benötigt, antwortet Jesus: Wahrlich, ich sage euch, insofern ihr es getan habt einem dieser meiner geringsten Brüder, habt ihr es mir getan. Und als andere meinen, sie hätten ihm doch immer geholfen, sagt Jesus: Wahrlich, ich sage euch, insofern ihr es nicht getan habt einem dieser Geringsten, habt ihr es mir auch nicht getan.

Der Künstler, der in Nigeria und England studierte, lehrt an der University of Conneticut. Oguibe ist Arnold-Bode-Preisträger 2017. Nach eigener Darstellung machte er das Kunstwerk mehr für die Menschen in Kassel als für die documenta: da Kassel eine lange Geschichte hat, Fremden eine Heimat zu geben. Oguibe erinnert an dieser Stelle an die Zuwanderung der Hugenotten ab 1685.

»Der Obelisk ist ein zeitlose Form, eine Form, die aus dem Altertum stammt, ursprünglich kam sie aus Afrika. Sie reiste um die Welt. Wir nutzen sie in diesem Zusammenhang, um ein universelles, zeitloses Prinzip in die Zukunft zu projizieren: die Idee der Barmherzigkeit und Gastfreundschaft gegenüber Fremden. Aber auch Dankbarkeit gegenüber Gastgebern. Denn ich glaube, Barmherzigkeit und Gastfreundschaft bedürfen letztendlich der Reziprozität. (...) Ich glaube, es ist wichtig festzustellen, dass Gastgebern Kosten erwachsen. Freundlichkeit ist nicht umsonst.

Ich interessiere mich mehr für die positive Geschichte der Stadt, eine Stadt, in der Fremde, Besucher, Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt eine Heimat fanden. Das wollen wir anerkennen. Seine Tür einem Fremden zu öffnen ist ein Akt des Vertrauens. All das ist verwoben in den Text, der für die Inschrift gewählt wurde. Er bekräftigt die Notwendigkeit der Gastfreundschaft, er bekräftigt die Notwendigkeit der Reziprozität, der Anerkennung, dass Nächstenliebe ein Vertrauensakt ist.

Wenn solche Fremde in eine Gemeinschaft kommen, bringen sie auch etwas mit. Sie bringen Fähigkeiten, sie bringen Diversität, Kultur, sie bringen Küche. So erweitern sie die Gemeinschaft, sie bereichern die Gemeinschaft, (...) sie bereichern die menschliche Erfahrung.

Für mich ist das Ziel, einen Raum zu hinterlassen für Reflexion, für Einkehr, vielleicht sogar für Debatte um die Fragen der Gastfreundschaft und Dankbarkeit.«

[Olu Oguibe, auszugsweise zitiert aus dem folgenden Video]

In Kassel wurde nicht nur der kreisrunde Königsplatz, sondern auch der Friedrichsplatz und das Museum Fridericianum von Oberhofbaumeister Simon Louis du Ry (1726 - 1799) geschaffen. Er entstammte einer hugenottischen Flüchtlingsfamilie.

Den Kasselern gefiel das Kunstwerk der documenta 14 (2017) - zunächst; bei Umfragen stach es alle anderen Werke der Kunstschau aus. Und der Obelisk war ein beliebter Treffpunkt. Der AfD-Stadtverordnete Thomas Materner hingegen nannte den Obelisken im Kulturausschuss der Stadt 2017 eine »ideologisierende und entstellende Kunst« - wohl in gezielter Anlehnung an den Begriff der Entarteten Kunst im Nazi-Deutschland. In der Folge stritt Kassel ein Jahr lang über den Verbleib des Obelisken. Dabei ging es ums Geld (der Künstler forderte 600.000 €), den Ort und auch um das zwiespältige Verhältnis der Bürger zur documenta 2017 [vgl. Die Problemsäule, Süddeutsche Zeitung, 2018/04/07]. Die Säule stehe nicht in der Mitte des Platzes, sei daher nicht herrschaftlich genug, lautete einer der Einwände beispielsweise. Andererseits: beruht Gastfreundschaft nicht mehr auf einer breiten Akzeptanz und Engagement von einzelnen als dass es sich um einen zentralisierten, behördlichen Akt handelt? Passt eine zentrale, repräsentative Aufstellung zu einem Kunstwerk, dass "displaced persons" gewidmet ist? Genau deshalb forderte Oguibe eine solch astronomische Summe für den Obelisken: um - passend zur thematischen Ausrichtung der documenta 2017 - eine breite gesellschaftliche Debatte über die Geschichte, Bedeutung und Wert des Fremden in unserer Kultur anzustoßen (und die Höhe des gemeinschaftlichen bürgerlichen Engagements zu prüfen). Während sich die Diskussion über Migration andernorts am nebulösen Begriff "Heimat" festbeißt...

Die Kulturdezernentin von Kassel, Susanne Völker, initiierte eine Spendenaktion - bis Ende April 2018 kamen so 126.000 € zusammen. Der Künstler erklärte sich mit der Spendensumme einverstanden, bestand aber darauf, dass der Obelisk - wenn er dauerhaft in Kassel verbleiben solle - auf dem Königsplatz aufgestellt bliebe. Die Stadt mochte nun nämlich - wohl ein Zugeständnis an fremdenfeindliche Stimmungen - den Obelisken in die migrantisch geprägte Nordstadt "outplacen". Oder suchte sie bloß nach einem Vorwand, um dem Künstler im Falle eines Abbaus des Kunstwerks den schwarzen Peter zuzuschanzen? Saskia Trebing hoffte, dass Oguibe »die Bewohner der viel beschworenen "Mitte" nicht aus ihrer Verantwortung entlässt.« [monopol-magazin.de, 30. Mai 2018]

Vor der Sommerpause 2018 wurde zwischen Künstler und Stadt der Kompromiss erzielt, den Obelisk dauerhaft vor dem geplanten documenta-Institut am Holländischen Platz aufzustellen, unter der Bedingung, dass der Obelisk bis dahin auf dem Königsplatz verbliebe.

Am der Tag der Deutschen Einheit aber, am 3. Oktober 2018, ließ Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) den ungeliebten »Fremdkörper« - ohne Wissen der Kulturdezernentin Susanne Völker - abbauen, "aus verkehrstechnischen Gründen" morgens früh um 4.30 Uhr [HNA, 3.10.2018, mit Bildern]. Bei der AfD frohlockte man denn auf Facebook: »Die Sektkorken knallen! Der Abbau des Obelisken ist ein voller Erfolg der AfD Kassel.« Auf der anderen Seite des Spektrums war die Rede von einer »hässlichen Botschaft« am Tag der Deutschen Einheit. Die Süddeutsche Zeitung titelte: »Auf Druck der AfD verschwindet das letzte Kunstwerk der Documenta. Ein Fall, der zeigt, wie Politiker und Medien gegenüber rechten Provokationen einknicken.« Die eingegangenen Spenden von Bürgern für den Ankauf des Kunstwerks wurden zurückgezahlt, Blumen an der Stelle, wo der Obelisk einmal stand, niedergelegt - wie bei einer Beerdigung. Das Monument, dem seine Herberge genommen wurde: nun selbst ein Flüchtling.

Am 11. Oktober 2018 dann die überraschende Wende: die Stadt lässt durch einen Sprecher erklären, dass der Obelisk nun - mit dem Einverständnis des Künstlers - in der Treppenstraße wieder aufgebaut werden solle. Der Künstler äußerte sich dahingehend, dass für seine Entscheidung maßgeblich sei, dass der öffentliche Wille, ein "sichtbares, fühlbares Denkmal der Documenta 14" und deren "humanistische Vision" zu erhalten, erkennbar war. (Von Bürgermeistern, Museumsleitern, Kuratoren und Stadtentwicklern aus verschiedenen Ländern hatten er und sein Berliner Galerist inzwischen alternative Angebote für den Obelisken erhalten.)

Am 18. April 2019 wurde der Obelisk in der Treppenstraße aufgestellt. Die Treppenstraße, am 9. November 1953 eingeweiht, war die erste Fußgängerzone Deutschlands; in 104 Stufen führt sie vom Friedrichsplatz zum Scheidemannplatz (in Richtung Bahnhof). Die Seite mit der Inschrift in deutscher Sprache zeigt auf Wunsch des Künstlers in Richtung Friedrichsplatz. Mehr:

Wenn der Abbau des Obelisk auch formal-rechtlich korrekt verlief - der "Leihvertrag" mit dem Künstler ebenso wie die Nutzungsüberlassung der öffentlichen Verkehrsfläche auf dem Königsplatz liefen am 30. September 2018 aus und Geselle setzte einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung um, wonach der Obelisk abzubauen sei, falls es zu keiner Einigung kommen würde: der Fall lässt in Kassel unschöne Erinnerungen wieder hochkommen. So etwa die an die Königsplatztreppe "ins Nichts", mit der sich der Hamburger Landschaftsplaner Gustav Lange 1989 in einem Wettbewerb zur Neugestaltung des Königsplatzes gegen 130 Konkurrenten hatte durchsetzen können. Oberbürgermeister Georg Lewandowski (CDU) ließ sie am 27. August 2000 in einer illegalen Nacht-und-Nebel-Aktion abreißen - und löste damit ein Wahlversprechen aus 1993 ein. Das Landgericht Kassel verhängte damals Geldbußen gegen den Oberbürgermeister, den Rechtsdezernent sowie den Baudezernenten. "Männer der Tat, die auf des Volkes Stimme hören und sich nicht um Recht und Gesetz scheren" [Jan Schlüter, HNA]. Und im Jahr 1939 hatten die Nazis einen Obelisken, 12 m hoch, vor dem Rathaus Kassel in Stücke geschlagen: der Obelisk stand in der Mitte eines Brunnens, den der Rathausarchitekt Karl Roth 1908 erbaut und der Kasseler Sigmund Aschrott gestiftet hatte, - und Sigmund Aschrott entstammte einer deutsch-jüdischen Familie...

The mirror is a window.
It offers a glimpse
Of where we are from
But cannot return.
We are all travelers
On this endless road
Condemned to roam
Without repose.

[aus Olu Oguibes Gedicht “Conversation”]

[Foto: 4/2019 tew. Lizenz: Creative Commons Namensnennung - nicht kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen]