SkulpTour Bonn

Bernar Venet (*1941 Château-Arnoux/Frankreich, lebt und arbeitet
in New York City): Arc ´89 (2016)

14 Bogensegmente aus Corten-Stahl, 17 m hoch.
Leihgabe der Stiftung für Kunst und Kultur e.V., Bonn, die ebenso für das Aufstellen, die Instandhaltung und - falls notwendig - Reparaturen aufkommt. Allein die Kosten für die Fundamente beliefen sich auf 48.000 €.
Standort: Trajektkreisel, B9 Ecke Franz-Josef-Strauß-Allee, südlich der Bundeskunsthalle. Am 5. Juni 2016 der Öffentlichkeit übergeben.

Die Skulptur will an die Ereignisse der historischen "Wende" 1989 erinnern: die Berliner Mauer wurde am 9. November 1989 geöffnet, nachdem im August und September desselben Jahres Ostdeutschen in großer Zahl die Flucht nach Österreich über Ungarn gelungen war und im Oktober u.a. in Leipzig über 70.000 Menschen friedlich gegen das DDR-Regime und für die Freiheit demonstriert hatten. Die Entwicklung führte in der Folge zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands am 3. Oktober 1990. Aus dieser Perspektive gesehen (Ost-West-Richtung), wenden sich die beiden Gruppen von Stahlbögen einander zu. Den Mittelpunktswinkel von 89° (d.h. die Größe des Kreisbogens im Verhältnis zum Vollkreis = 360°) kann man bei den einzelnen Kreisbögen mal mehr, mal weniger gut nachvollziehen.

Venet ist fasziniert von mathematischen Formeln und Symbolen - die er in den späten 1960ern Jahren gar in den Rang eines Kunstwerk erhob und als solche - großformatig - ausstellte. Im Gegensatz zur Vieldeutigkeit der Welt und all den Unwägbarkeiten des Alltags liefert die Mathematik ein (extrinsisches) System, bei dem jedes Faktum (nur) eine einzige, genau begrenzte Bedeutung hat. So ist ein Kreisbogen beispielsweise festgelegt durch die entsprechende mathematische Formel plus eine konkrete Angabe (das Datum) für den Parameter 'Mittelpunktswinkel' (und den Radius). Eine solche mathematische Beschreibung gestattet es beispielsweise, eine Form computergesteuert mit höchster Präzision maschinell zu fertigen (CNC-Maschinen). Erst recht die Digitalisierung und insbesondere der 3D-Druck lassen die Grenze zwischen nackten Daten (oder "Information") hier und materialer Manifestation dort verschwimmen. (Man vergleiche auch mit dem menschlichen Gehirn, das unsere Vorstellungen von realen Objekten ausbildet durch Neuronen und Synapsen dazwischen.)

Mit Nichten ist allerdings eine Kreisbogen-Skulptur von Venet schon durch ihren Werktitel beschrieben, der in minimalistischer Kürze lediglich darüber Auskunft gibt, wie viel Grad (bezogen auf den vollen Kreis) der Bogen entspricht. Die Erfahrung vor Ort ist eine ganz andere, die Wirkung eines Arc's von Venet entspringt vielmehr der wahrgenommenen Härte und Schwere des Materials Metall, der Anmut und Größe der gerundeten, aber unvollkommenen Kreisbogenform - die der Betrachter im Geiste zum Kreis vollendet denkt - wie auch der Exaktheit der Ausführung, insbesondere an den Kanten. Die Werkgruppe der Bögen bezieht ihre Kraft mithin gerade aus der Spannung zwischen der unpersönlichen Setzung (geometrische Form, wie durch eine Formel beschrieben, plus Angabe eines Mittelpunktswinkels) und der subjektiven und individuell unterschiedlichen Wirkung auf den Betrachter. Die Mathematik dient Venet als formale Inspirationsquelle.

Venet studierte 1958 zunächst an der städtischen Schule für Gestaltende Kunst in Nizza. Anschließend war er an der Oper Nizza als Bühnenbildner tätig. Nach seinem Wehrdienst begann er, künstlerisch zu arbeiten und widmete sich der Malerei, Zeichnung und Fotografie und konzipierte ein Ballett. Eine Serie von Gemälden aus Teer entsteht (1961), 1963 ein Haufen Kohle, auf den Boden geschüttet.

1966 siedelte Venet nach New York über und wurde Teil der dortigen minimalistischen Avantgarde-Szene. Mit Dan Flavin, Donald Judd und Sol LeWitt war er befreundet und tauschte Arbeiten aus. 1971 der Bruch: Venet zog sich konsequent von jeglicher künstlerischen Tätigkeit zurück und konzentrierte sich auf kunsttheoretische Fragen. Er unterrichtete an der Pariser Universität Sorbonne Kunst und Kunsttheorie und gab Vorlesungen in England, Italien, Polen und Belgien. Ab 1976 beginnt Venet wieder, künstlerisch zu arbeiten; es entstehen Holzreliefs: Bögen, Winkel, gerade Linien. 1979 erschafft er die erste seiner "Unbestimmten Linien" - und schafft damit einen Antipoden zur mathematischen Strenge in seinem Werk: das Unbewusst-Gestische, das Unberechenbare. In den 1980er Jahren entwickelt er dann jene minimalistischen Stahlskulpturen, für die er international bekannt wird: mal Kreisbögen, mal Spiral- oder Schraublinien, später oft Arrangements aus solchen, die trotz ihrer Masse leicht wirken. Die Mathematik dient Venet dabei als formale Inspirationsquelle. 1989 kauft er eine alte Fabrik und Wassermühle in Le Muy, Südfrankreich, heute Sitz der Venet Foundation. Auf Einladung von Jacques Chirac, damals Oberbürgermeister von Paris, stellt Venet 1994 zwölf monumentale Stahlskulpturen auf den Champs de Mars aus. Aufträge weltweit folgen. Bis heute arbeitet Venet auch in Malerei, Poesie, Film und Performance.

1977 war Venet Teilnehmer der documenta 6 in Kassel, 1978 nahm er an der Biennale Venedig teil. 1993 führte ihn eine große Retrospektive, ausgerichtet vom Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain Nice, ins Wilhelm-Hack-Museum nach Ludwigshafen am Rhein. Immer wieder ist er auf den Blickachsen in Bad Homburg vor der Höhe und im Rhein-Main-Gebiet vertreten. 2011 bespielt er die Wiese vor dem IG-Farben-Haus auf dem Campus Westend der Universität Frankfurt mit einer eindrucksvollen Solo-Schau. Seine Werke sind in Europa, den USA und Neuseeland öffentlich aufgestellt, Museen auf der ganzen Welt widmen ihm Ausstellungen.

Zu den zahlreichen Ehrungen und Preisen, die Venet zuteil wurden, zählen:
1990 Grand Prix des Arts de La Ville de Paris
1996 Chevalier des Arts et Lettres
1997 Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften
und Künste, Salzburg, Österreich
2005 Chevalier de la Légion d’Honneur
2016 Lifetime Achievement in Contemporary Sculpture Award,
International Sculpture Center

Mehr:

Die Welt des Bernar Venet (Welt der Form)


Deutsche Welle, YouTube, 7. Juni 2016

[Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Stiftung für Kunst und Kultur e.V.;
Fotograf: Daniel Biskup]